Martin Porwoll

Martin Porwoll

Martin Porwoll war kaufmännischer Leiter einer Bottroper Apotheke, in der Krebsmedikamente nach individueller ärztlicher Verordnung hergestellt wurden. Als er aufgrund konkreter Verdachtsmomente zu der Überzeugung gelangte, dass die Dosierung der Wirkstoffe vom Inhaber der Apotheke in betrügerischer Absicht skrupellos manipuliert wurden und so das Leben vieler Patient*innen in Gefahr war, erstattete er Strafanzeige und wurde sofort gekündigt. In der zweiten Instanz seiner Kündigungsschutzklage erzielte er einen Vergleich. In der Folge wurde das „Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV)“ verabschiedet und die Kontrolldichte in Apotheken erhöht.

Bei der „Alten Apotheke“ in Bottrop handelt es sich um eine onkologische Schwerpunktapotheke. Sie ist eine von bundesweit ca. 300 Apotheken, denen es erlaubt ist, patientenindividuell verordnete Krebs-Medikamente herzustellen. Porwoll arbeitet hier als kaufmännischer Leiter. In dieser Funktion hat Porwoll Zugang zu den Geschäftszahlen und den Verordnungen. Aufgrund hartnäckiger interner Gerüchte, dass sein Chef Krebs-Medikamente unterdosiere, untersucht Porwoll Zahlen zum Medikament Opdivo aus den letzten Monaten. Die Gerüchte bestätigten sich: Es wurden 52.000 Milligramm des Wirkstoffs abgesetzt, aber nur 16.000 Milligramm eingekauft. 36.000 Milligramm des Krebswirkstoffs sind also nicht bei den Patient*innen angekommen.

Genauso werden über diesen Weg die Krankenkassen allein mit dem Medikament Opdivo um 615.000 Euro innerhalb eines Jahres geprellt. Insgesamt geht es um 50 verschiedene gestreckte Medikamente, um mehr als 14.000 Einzelfälle, mit denen ein Schaden von vielen Millionen Euro bei den Krankenkassen entstanden ist. Möglich wird dieser Betrug, weil es in den Apotheken keine unangekündigten behördlichen Kontrollen gibt. Das Gericht wird später feststellen, dass zwischen 3.000 und 5.000 Patient*innen von der Panscherei betroffen waren.

Porwoll entschließt sich, von nun an ein Doppelleben zu führen: Einerseits arbeitet er weiter für die Apotheke, andererseits beginnt er Beweise zu sammeln, um Strafanzeige gegen seinen Chef stellen zu können. Er befürchtet, dass dieser Beweise vernichten würden, wenn er den Missstand zunächst intern meldet. Im Juli 2016 reicht sein Anwalt Anzeige bei der Staatsanwaltschaft für Wirtschaftskriminalität ein. Porwoll wartet wochenlang auf eine Reaktion. Schließlich wird er bei der Staatsanwaltschaft vorgeladen und muss vollumfänglich zu seiner Strafanzeige Stellung nehmen und diese rechtfertigen. Im Laufe der kriminalpolizeilichen Ermittlungen wird ihm deutlich gemacht, dass weitere Beweise oder Aussagen Dritter von Vorteil für die laufenden Ermittlungen wären, damit die Staatsanwaltschaft tätig wird. Eine Kollegin aus der Apotheke, die als pharmazeutisch-technische Assistentin angestellt ist, entwendet in einem günstigen Moment einen Rückläuferbeutel und stellt diesen der Polizei zur Verfügung. Einen Monat später kommt es zur Razzia in der „Alten Apotheke“. Allein an diesem Tag sollten 117 Infusionsbeutel die Apotheke verlassen, jeder zweite davon war massiv unterdosiert.

Porwoll erhält kurz nach der Verhaftung des Apothekers eine fristlose Kündigung, wogegen er vor dem Arbeitsgericht Gelsenkirchen klagt. Das Arbeitsgericht erkennt jene Schritte, die er zur Aufklärung des Missstands unternahm, nicht als Kündigungsgrund an. Allerdings findet sein ehemaliger Arbeitgeber einen anderen fadenscheinigen Kündigungsgrund, den das Gericht aufgrund eines Missverständnisses in der Beweisaufnahme anerkennt. In zweiter Instanz wird im März 2018 das Missverständnis ausgeräumt und die Vorsitzende Richterin bewegt die beiden Parteien dazu einem Vergleich, der eine Zahlung von zehn Brutto-Monatsgehältern beinhaltet, abzuschließen. Auf deren Auszahlung wartet Porwoll bis heute.

Porwoll und sein Vorgesetzter Peter S. kennen sich zum Zeitpunkt der Strafanzeige seit über 40 Jahren. Gewissensbisse und das Bewusstsein darüber, dass Patient*innen weiter geschädigt werden, solange er Beweise sammelt, machen Porwoll krank. Hoher Blutdruck und Panikattacken belasten ihn, sodass er zwischenzeitlich nicht mehr wagt, Auto zu fahren. Porwolls Schicksal zeigt ein problematisches Paradigma in der deutschen Rechtsprechung: Ein gekündigter Whistleblower muss notgedrungen das Unmögliche leisten: nämlich Motivforschung für seine Kündigung betreiben und seine Vorgehensweise gleichzeitig rechtfertigen. Das gesellschaftliche Stigma des Nestbeschmutzers ist häufig sein Lohn.

Sein Erfahrungsbericht

„Whistleblower“. Das ist noch immer ein Wort, mit dem ich kaum etwas anfangen kann. Heute frage ich mich, wie das zusammenpasst, die Last auf meiner Brust und der Fakt ein Whistleblower zu sein.

Ich habe einen Ausgang aus einer unerträglichen Situation gesucht und große Hoffnungen mit der Veröffentlichung der Vorgänge in der Apotheke verbunden. Ich dachte, ich könnte das absolut dysfunktionale Kontroll-System ändern. Aber vor allem dachte ich, ich könnte Menschen helfen, die sich in einer schrecklichen Situation befinden. Ich wollte Ihnen die Möglichkeit geben, sich gegen ein Verbrechen, das womöglich an ihnen verübt wurde, zu wehren. Zu handeln war keine Entscheidung, es war meine Pflicht.

Ich dachte, es sei ein Ausgang aus einem unerträglich gewordenen Leben. Aber es war kein Ausgang, es ist ein Eingang gewesen. Ein Eingang in ein anderes Leben. Aber definitiv nicht das Leben, das ich mir erhofft hatte. Ein Eingang ohne Möglichkeit zurück zu kehren.

Was als Ausgang, als leuchtendes Tor erschien, entpuppt sich als langer dunkler Tunnel. Ich kann nicht behaupten, dass ich nicht geahnt hätte, was auf mich zukommt, was das alles für meine Familie bedeuten würde. Verlust des Arbeitsplatzes, der Ruf ein Verräter zu sein, keinen neuen Arbeitsplatz zu finden. Ich wusste, dass Whistleblower in Deutschland kaum geschützt sind. Wie schlimm es dann wirklich kommt, kann man sich kaum vorstellen. Ich wusste, dass Whistleblower in Deutschland kaum geschützt sind. Wie schlimm es dann wirklich kommt, kann man sich kaum vorstellen.

„Whistleblower“. Das Wort klingt hübsch, aber für viele ist man auf gut Deutsch ein „Verräter“, ein „Nestbeschmutzer“. Das hat nichts Positives. Ich trage das Wort mit mir wie eine unübersehbare Brandwunde. Natürlich gibt es anerkennende Worte, aber ich höre das Unbehagen zwischen den Zeilen. Dass ich derjenige bin, der zu genau nachgesehen hat. Nach dem wohlwollenden Händedruck bleibe ich allein. Da stehe ich allein mit dem, was ich getan habe. Alleinmit dem schalen Gefühl, etwas getan zu haben, das jeder gutheißt, aber niemand in seiner Nähe haben möchte. Ich habe mir Illusionen gemacht, die langsam aber sicher erodiert sind. Illusionen über die staatlichen Institutionen, welche die betroffenen Menschen aufklären, schützen und ihnen helfen sollten. Schon bald stellte sich bei mir die Erkenntnis ein, dass ich nicht aufhören kann, weiter an der Sache zu arbeiten. Dass aus meinem Whistleblowing eine Verantwortung erwächst. Die Verantwortung dafür zu sorgen, dass sich das System wenigstens an dieser einen Stelle zu Gunsten der Menschen ändert.

Am Ende bleibt mir die Hoffnung, in diesem kleinen Bereich die Welt ein wenig besser gemacht zu haben. Was eigentlich zu pathetisch klingt, ist für mich ein Stück Wahrheit geworden. Dies ist meine Gelegenheit, die habe ich ergriffen. Dafür werde ich weiter kämpfen und arbeiten. Das ist mein Glaube daran, dass nur wir selbst die Welt in der wir leben, die konkreten Bedingungen unter denen wir Leben, besser machen können.

 

Unser Newsletter

Wollen Sie über Neuigkeiten auf dem Laufenden gehalten werden?

Unterstützen Sie uns!