Martin Porwoll

Martin Porwoll

Martin Porwoll stellt als kaufmännischer Leiter der „Alten Apotheke“ in Bottrop 2016 fest, dass die dort hergestellten Krebsmedikamente systematisch unterdosiert werden. Er beschließt zu handeln. Durch seine Enthüllungen können gesundheitliche Schäden in tausendfacher Zahl vermieden und finanzieller Schaden in Millionenhöhe von den Krankenkassen abgewendet werden. Sein Chef wird zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Porwoll selbst wird fristlos gekündigt.

Was wurde aufgedeckt und worin bestand das öffentliche Interesse?

Die „Alte Apotheke“ in Bottrop ist eine von bundesweit ca. 300 onkologischen Schwerpunktapotheken in der patientenindividuell verordnete Krebs-Medikamente hergestellt werden. Martin Porwoll arbeitet hier als kaufmännischer Leiter und hat Zugang zu Geschäftszahlen und Verordnungen. Aufgrund hartnäckiger interner Gerüchte, dass der Apothekeninhaber Krebs-Medikamente unterdosiere, gleicht Martin Porwoll Ein- und Ausgänge beim Medikament Opdivo ab. Die Vorwürfe bestätigen sich: Es wird deutlich weniger Wirkstoff eingekauft als für die Herstellung benötigt gewesenen wäre.

Insgesamt werden die Wirkstoffe von 50 verschiedenen Medikamenten gestreckt, zum Schaden von 3.000 bis 5.000 Patient*innen. Die Krankenkassen werden so um mehrere Millionen Euro betrogen. Möglich ist das u.a., weil bei den Apotheken keine unangekündigten behördlichen Kontrollen stattfinden.

Was hat der Whistleblower unternommen?

Martin Porwoll führt zeitweise ein Doppelleben. Einerseits arbeitet er weiter für die Apotheke, andererseits beginnt er Beweise zu sammeln. Im Juli 2016 reicht sein Anwalt Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft für Wirtschaftskriminalität ein. Martin Porwoll wartet wochenlang auf eine Reaktion. Schließlich wird er von der Staatsanwaltschaft vorgeladen und muss zu seiner Strafanzeige Stellung nehmen und diese rechtfertigen. Im Laufe der kriminalpolizeilichen Ermittlungen wird ihm deutlich gemacht, dass weitere Beweise oder Aussagen Dritter von Vorteil für die laufenden Ermittlungen wären. Maria-Elisabeth Klein, eine pharmazeutisch-technische Assistentin der Apotheke, entwendet in einem günstigen Moment einen Rückläuferbeutel und stellt diesen der Polizei zur Verfügung. Einen Monat später kommt es zur Razzia in der „Alten Apotheke“. Allein an diesem Tag sollten 117 Infusionsbeutel an Patienten ausgegeben werden, jeder zweite davon war massiv unterdosiert.

Was waren die Folgen für den Whistleblower?

Martin Porwoll erhält kurz nach der Verhaftung des Apothekers eine fristlose Kündigung, wogegen er vor dem Arbeitsgericht Gelsenkirchen klagt. Das Arbeitsgericht erkennt jene Schritte, die er zur Aufklärung des Missstands unternahm, nicht als Kündigungsgrund an. Allerdings findet sein ehemaliger Arbeitgeber einen anderen fadenscheinigen Kündigungsgrund, den das Gericht anerkennt. In zweiter Instanz wird im März 2018 ein Vergleich abgeschlossen. Auf die vereinbarte Zahlung von zehn Brutto-Monatsgehältern wartet Martin Porwoll bis heute.

Martin Porwoll und der Apothekenbesitzer kennen sich zum Zeitpunkt der Strafanzeige seit über 40 Jahren. Gewissensbisse und das Wissen darüber, dass Patienten weiter geschädigt werden, solange er Beweise sammelt, machen Martin Porwoll krank. Hoher Blutdruck und Panikattacken belasten ihn so, dass er zwischenzeitlich nicht mehr wagt, Auto zu fahren.

Was waren die gesellschaftlichen Folgen?

Die Stadt richtet für die Opfer des Krebsskandals eine Beratungsstelle ein, der Landtag Nordrhein-Westfalens einen Fonds, aus dem Geschädigte auf Antrag 5.000 Euro erhalten. Der Apotheker wird wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz in knapp 14.500 Fällen und Betrugs in 59 Fällen zu zwölf Jahren Haft verurteilt und erhält ein Berufsverbot. Die Richter weisen zudem die Einziehung der Taterträge in Höhe von 13,6 Millionen Euro an.

Als Konsequenz aus diesem und ähnlichen Skandalen wird das Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) verabschiedet. Es sieht u.a. eine höhere Kontrolldichte für Herstellerbetriebe von Arzneimitteln und eine bessere Zusammenarbeit von Bundes- und Landesbehörden vor.

Martin Porwolls Erfahrungsbericht – ein Jahr danach

„Whistleblower“. Das ist noch immer ein Wort, mit dem ich kaum etwas anfangen kann. Heute frage ich mich, wie das zusammenpasst, die Last auf meiner Brust und der Fakt ein Whistleblower zu sein.

Ich habe einen Ausgang aus einer unerträglichen Situation gesucht und große Hoffnungen mit der Veröffentlichung der Vorgänge in der Apotheke verbunden. Ich dachte, ich könnte das absolut dysfunktionale Kontroll-System ändern. Aber vor allem dachte ich, ich könnte Menschen helfen, die sich in einer schrecklichen Situation befinden. Ich wollte Ihnen die Möglichkeit geben, sich gegen ein Verbrechen, das womöglich an ihnen verübt wurde, zu wehren. Zu handeln war keine Entscheidung, es war meine Pflicht.

Ich dachte, es sei ein Ausgang aus einem unerträglich gewordenen Leben. Aber es war kein Ausgang, es war ein Eingang. Ein Eingang in ein anderes Leben. Aber definitiv nicht das Leben, das ich mir erhofft hatte. Ein Eingang ohne Möglichkeit zurückzukehren.

Was als Ausgang, als leuchtendes Tor erschien, entpuppt sich als langer dunkler Tunnel. Ich kann nicht behaupten, dass ich nicht geahnt hätte, was auf mich zukommt, was das alles für meine Familie bedeuten würde. Verlust des Arbeitsplatzes, der Ruf ein Verräter zu sein, keinen neuen Arbeitsplatz zu finden. Ich wusste, dass Whistleblower in Deutschland kaum geschützt sind. Wie schlimm es dann wirklich kommt, kann man sich kaum vorstellen.

„Whistleblower“. Das Wort klingt hübsch, aber für viele ist man auf gut Deutsch ein „Verräter“, ein „Nestbeschmutzer“. Das hat nichts Positives. Ich trage das Wort mit mir wie eine unübersehbare Brandwunde. Natürlich gibt es anerkennende Worte, aber ich höre das Unbehagen zwischen den Zeilen. Dass ich derjenige bin, der zu genau nachgesehen hat. Nach dem wohlwollenden Händedruck bleibe ich allein. Da stehe ich allein mit dem, was ich getan habe. Allein mit dem schalen Gefühl, etwas getan zu haben, dass jeder gutheißt, aber niemand in seiner Nähe haben möchte. Ich habe mir Illusionen gemacht, die langsam, aber sicher erodiert sind. Illusionen über die staatlichen Institutionen, welche die betroffenen Menschen aufklären, schützen und ihnen helfen sollten. Schon bald stellte sich bei mir die Erkenntnis ein, dass ich nicht aufhören kann, weiter an der Sache zu arbeiten. Dass aus meinem Whistleblowing eine Verantwortung erwächst. Die Verantwortung dafür zu sorgen, dass sich das System wenigstens an dieser einen Stelle zu Gunsten der Menschen ändert.

Am Ende bleibt mir die Hoffnung, in diesem kleinen Bereich die Welt ein wenig besser gemacht zu haben. Was eigentlich zu pathetisch klingt, ist für mich ein Stück Wahrheit geworden. Dies ist meine Gelegenheit, die habe ich ergriffen. Dafür werde ich weiter kämpfen und arbeiten. Das ist mein Glaube daran, dass nur wir selbst die Welt in der wir leben, die konkreten Bedingungen, unter denen wir Leben, besser machen können.

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