Zum zukünftige Verhältnis von interner und externer Meldung

In einer Rede zur Verleihung des Whistleblower-Preises schilderte der damalige Richter am Bundesverfassungsgericht Jürgen Kühling das gesellschaftliche Umfeld des Whistleblowers im Jahr 1999 so: „Sein Verhalten wird als Verrat eingestuft, gilt als illoyal. Ein tief verwurzeltes Ethos der Gefolgschaftstreue überlagert die Grundsätze einer aufgeklärten Ethik, die sein Verhalten gutheißt.“1 Auf diesem Nährboden ist in Deutschland die Doktrin vom grundsätzlichen Vorrang des internen Whistleblowings vor dem Whistleblowing gegenüber Behörden entstanden.2 Von Ausnahmen abgesehen, sollte ein Whistleblower, der sich direkt an die Behörden wandte, keinen Schutz gegen Repressalien, insbesondere die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses, genießen. 2001 stärkte das Bundesverfassungsgericht die Rechtsposition von Whistleblowern unter Berufung auf das Rechtsstaatsprinzip.3 Es heißt in dieser Entscheidung: „Auch die Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte im Strafverfahren kann – soweit nicht wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben gemacht werden – im Regelfall nicht dazu führen, daraus einen Grund für eine fristlose Kündigung eines Arbeitsverhältnisses abzuleiten.“ In der Spruchpraxis des Bundesarbeitsgericht wurde diese Vorgabe jedoch nicht konsequent umgesetzt.4

Als die Europäische Kommission im April 2018 ihren Vorschlag für eine Richtlinie zum Schutz von Personen vorlegte, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden,5 wollte sie den grundsätzlichen Vorrang des internen Whistleblowings festschreiben.6 Sie stieß auf entschiedenen Widerstand des Europäischen Parlaments, das dem Whistleblower die Wahl zwischen internem Whistleblowing und dem Gang zu den Behörden lassen wollte.7

Im Februar 2019 forderten 80 Organisationen aus ganz Europa in einem dramatischen Appell an den Rat der EU, in der Richtlinie nicht den grundsätzlichen Vorrang des internen Whistleblowings vorzuschreiben.8

In der Nacht vom 11. auf den 12. März wurde in Trilog-Verhandlungen zwischen Europäischem Parlament, Kommission und Rat eine Einigung über die Hinweisgeber-Richtlinie erreicht. Die Berichterstattung zu der Frage, was genau zum Verhältnis von internem und externem Whistleblowing vereinbart worden war, bot jedoch ein höchst widersprüchliches Bild. Es herrschte babylonische Sprachverwirrung. Ich erspare mir Einzelheiten und stelle Ihnen die zentralen Bestimmungen der Fassung vor, die vom Europäischen Parlament am 16. April 2019 mit 591 Stimmen bei 29 Gegenstimmen und 33 Enthaltungen verabschiedet wurde.9

Art. 5 legte die Voraussetzungen für den Schutz von Hinweisgebern fest. Nach Absatz 1 Buchstabe b bestand Anspruch auf Schutz, wenn „they reported internally in accordance with Article 7 and externally in accordance with Article 10, or directly externally or publicly disclosed information in accordance with Article 15 of this Directive”. „Or directly externally“ ist in diesem Text, der das Ergebnis der Trilog-Verhandlungen in der Originalsprache wiedergibt, eine eigenständige, wahlweise zur Verfügung stehende Alternative. Leider war die vorläufige deutsche Übersetzung völlig missglückt. Artikel 15, der sich mit dem Gang an die Öffentlichkeit befasste, wurde nämlich sinnwidrig auch auf das externe Whistleblowing gegenüber Behörden bezogen.10

Die Richtlinie wurde sprachjuristisch überarbeitet und durchlief ein Berichtigungsverfahren im Europäischen Parlament, das am 16.9.2019 erneut zustimmte.11 Am 7.10.2019 nahm der Rat die Richtlinie an.12 In der Presseerklärung des Rates vom selben Tag heißt es sehr klar: „Hinweisgebern wird empfohlen, zunächst die internen Kanäle ihrer Organisation zu nutzen, bevor sie auf externe, von den Behörden eingerichtete Kanäle zurückgreifen. Aber auch dann, wenn sie sich sofort an externe Stellen wenden, behalten sie auf jeden Fall ihren Schutz.“13

Gegenüber der ursprünglichen Fassung hat sich in dem hier interessierenden Punkt Folgendes geändert. Die Voraussetzungen für den Schutz von Hinweisgebern sind statt in Art. 5 in Art. 6 regelt. Dessen Abs. 1 Buchstabe b knüpft den Schutz nun an die Bedingung, dass die Hinweisgeber „intern gemäß Artikel 7 oder extern gemäß Artikel 10 Meldung erstattet haben oder eine Offenlegung gemäß Artikel 15 vorgenommen haben.“ Die Alternative „auf direktem Wege extern“ wird hier also nicht genannt. Sie wird in Artikel 10 behandelt, auf den verwiesen wird. Dieser Artikel hat die Überschrift „Meldung über externe Meldekanäle“ und lautet: „Unbeschadet des Artikels 15 Absatz 1 Buchstabe b melden Hinweisgeber Informationen über Verstöße unter Nutzung der Kanäle und Verfahren gemäß den Artikeln 11 und 12, nachdem sie zuerst über interne Meldekanäle Meldung erstattet haben, oder indem sie direkt über externe Meldekanäle Meldung erstatten.“

Bestandteil des Trilog-Kompromisses ist eine Regelung, wonach die Mitgliedstaaten Hinweisgeber ermutigen, bevor sie sich an die Behörden wenden, interne Meldekanäle zu nutzen, wenn „intern wirksam gegen den Verstoß vorgegangen werden kann und der Hinweisgeber keine Repressalien befürchtet“.14 Im Rahmen der durch die Richtlinie vorgeschriebenen Unterrichtung müssen zweckdienliche Informationen über die Nutzung interner Meldekanäle bereitgestellt werden.15 Für den Schutz des Whistleblowers ist diese Vorschrift ohne Bedeutung.

Der Kompromiss erinnert mich an einen großen Konflikt zwischen der US-amerikanischen Securities Exchange Commission (SEC) und Vertretern der Wirtschaft über die Bedingungen der Teilnahme an dem SEC-Belohnungsprogramm für Whistleblower. Die Kommission lehnte es ab, die Belohnung an die Voraussetzung zu knüpfen, dass zunächst intern Meldung erstattet wird. Sie schuf jedoch Anreize, dies zu tun.16

Die Hinweisgeber-Richtlinie der EU strahlte unmittelbar auf den Europarat aus. Am 1. Oktober 2019 nahm die Parlamentarische Versammlung des Europa-Rates eine Resolution zur Verbesserung des Schutzes von Whistleblowern in ganz Europa an17. Es heißt darin zu dem Entwurf, dem das Europäische Parlament am 16. April zugestimmt hatte: „This draft instrument, broadly inspired by the Council of Europe’s work on the subject, is a real step forward. In particular, it permits free choice as to the channel employed to ‘blow the whistle’, without imposing an order of priority between internal and external channels.” Die Mitgliedstaaten des Europarates, die nicht Mitglieder der EU sind, werden in der Resolution aufgerufen, Whistleblowern denselben Schutz zu gewähren, wie es die EU-Mitgliedstaaten auf der Basis der Richtlinie tun müssen. In dem Memorandum, mit dem das Committe on Legal Affairs and Human Rights der Parlamentarischen Versammlung den Entwurf dieser Resolution erläuterte, wird zu der Trilog-Lösung ausgeführt: „The whistleblower can choose from the outset between an internal report and contacting the competent authorities (for example the prosecution service or the supervisory or regulatory authorities). […] This solution, obtained after a hard fight by the European Parliament against the resistance of several ‘major countries’ within the Council, corresponds to the case law of the European Court of Human Rights.“18 Dies bestätigt mich in meiner Auffassung, dass die Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshof nicht den grundsätzlichen Vorrang des internen Whistleblowings vorschreibt, und zwar auch nicht in der Heinisch-Entscheidung.19 Diese Entscheidung beruht m.E. auf einer Unterscheidung zwischen dem, was durch die Europäische Menschenrechtskonvention zwingend vorgegeben ist, und dem, was die Vertragsstaaten im Rahmen ihres Ermessens tun können. Es ist danach zulässig, den grundsätzlichen Vorrang des internen Whistleblowings vorzuschreiben. Es ist jedoch nicht geboten. Die Lösung, die der EU-Gesetzgeber in der Hinweisgeber-Richtlinie gewählt hat, ist also mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar.

 

1 Deiseroth, Dieter; Göttling, Dietmar (Hrsg.): Der Fall Nikitin. Eine Dokumentation zur Verleihung des Whistleblowerpreises 1999. Mit einem Geleitwort von Bundesverfassungsrichter Dr. Jürgen Kühling. – Pittenhart 2000, S. 3. 2 Rechtsprechungsnachweise bei Krause, Rüdiger: Zwischen Treuepflichtverletzung und Rechtsdurchsetzungsinstrument – Externes Whistleblowing im Wandel der Zeiten. In: Soziales Recht 2019, 138 ff., 142 f.
3 Beschluss vom 2.7.2001 – 1 BvR 2049/00.
4 Siehe BAG, Urteil vom 3.7.2003 – 2 AZR 235/02.
5 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, vom 23.4.2018, COM(2018) 218 final.
6 Art. 13 des Vorschlags.
7 Beginnend mit dem Berichtsentwurf des federführenden Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments vom 2.7.2018, Berichterstatterin: Virginie Rozière.
8 https://rsf.org/en/news/open-letter-making-whistleblowing-work-europe.
9 Englische Version: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-8-2019-0366_EN.html. Deutsche Version: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-8-2019-0366_DE.html. Zum Abstimmungsergebnis: Pressemitteilung des Europäischen Parlaments vom 16.4.2019, https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20190410IPR37529/whistleblower-neue-vorschriften-fur-eu-weiten-schutz-von-informanten.
10 Deutsche Version: „b) sie intern gemäß Artikel 7 und extern gemäß Artikel 10 Meldung erstattet haben oder gemäß Artikel 15 dieser Richtlinie auf direktem Wege extern oder öffentlich Informationen gemeldet haben.“
11 Bundesrechtsanwaltskammer, Newsletter „Nachrichten aus Brüssel“, Ausgabe 18/2019 v. 18.10.2019, Whistleblower-Richtlinie verabschiedet – Rat.
12 Die Richtlinie wurde am 23. Oktober 2019 von den Präsidenten des Europäischen Parlaments und des Rates unterzeichnet und am 26. November 2019 im Amtsblatt veröffentlicht (L 305). Ihre vollständige Bezeichnung lautet: Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden. Deutsche Version: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32019L1937&from=DE, englische Version: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=CELEX:32019L1937&from=DE.
13 https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2019/10/07/better-protection-of-whistle-blowers-new-eu-wide-rules-to-kick-in-in-2021/.
14 Artikel 7 Absatz 2.
15 Artikel 7 Absatz 3.
16 Gerdemann, Simon: Transatlantic Whistleblowing. – Tübingen 2018, S. 320 ff.
17 Resolution 2300 (2019)
http://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-XML2HTML-EN.asp?fileid=28150&lang=en.
18 Randnummern 42 f., http://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-XML2HTML-EN.asp?fileid=28096&lang=en.
19 Colneric, Ninon: Does the case law of the European Court of Human Rights show that the Conventions State of the European Convention on Human Rights must prescribe priority of internal whistle-blowing as a rule? In: Soziales Recht 2018, 232 ff.

 

* Dieser Beitrag war das einleitende Statement von Prof. Ninon Colneric im Streitgespräch „Alles klar? Das zukünftige Verhältnis von interner und externer Meldung“ auf der Veranstaltung „EU-Richtlinie zum Hinweisgeberschutz. Und nun?“, die in Kooperation zwischen Whistleblower Netzwerk e.V. und Transparency International Deutschland e.V. am 21. November 2019 in Berlin durchgeführt wurde.

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